senzatempo - online

Kleines Archiv für Musikphilosophie


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2010082900 Willkommen zur neuen senzatempo !
2010082901 Cadenca construenda
2010082902 Überwältigung durch Uminterpretation
Eine einfache, grundlegende und sehr wirkungsvolle harmonische Maßnahme im Finale von Mahler II
2010082903 Eine prominente Aufführung von Mahler II

^inh 2010082900 editorial
Willkommen zur neuen senzatempo !

Liebe Leserinnen und Leser !

senzatempo ist unser "kleines Archiv für Musikphilosophie".

Sein Inhalt sind zunächst (1) musiktheoretische Analysen konkreter Einzelwerke, -- ja, bis hinab zu Einzel-stellen, die den dahinterliegenden ästhetischen Mechanismus aufweisen wollen, aber auch seine historische Herkunft und seinen weiterweisenden, oft trans-musikalischen Gehalt.
Weiterhin systematische Darstellungen (2) von Werkgruppen, Lebenswerken, historischen Strängen und umfassenden Konzepten, in ihrer Grundlegung und ihrem weiteren Geschick, und (3) von universellen Methoden in musikalischer Produktion und Analyse, --- auch dies oft mit Bezug auf das, was jenseits von Musik als bloßer Kunst als eigentlich Gemeintes angestrebt werden sollte. Daneben gibt es auch (4) Betrachtungen über Allgemeineres, über Ziffern, Zahlen und Spiralen, um die gemeinsame Grundstruktur von Musik und Welt, wie wir sie erleben, aufzuweisen.

Die Zielgruppe ist durchaus wechselnd: die einzelnen Artikel wenden sich, je nach Gegenstand, an interessierte Laien ganz ohne musikalische Vorbildung, an gebildete Dilettanten in des Wortes edelster Bedeutung, an Fachkollegen oder gar an ausgesprochene Spezialisten. Jedes suche sich was ihm munde.

Zur Vorgeschichte: senzatempo erschien als gedruckte Publikation in mehreren, durchaus unterschiedlich starken Nummern in den Jahren 1998 bis 2001. Diese historischen Ausgaben finden Sie auch hier im Netz, aufgelistet als Schluss vom Gesamtverzeichnis. Wir hoffen, daß irgendwann die Kapazitäten zur Verfügung stehen, auch diese zu digitalisieren, damit sie in den geplanten "Verlinkungsprozess" einbezogen werden können.

Zunächst aber freuen wir uns sehr, endlich die Arbeit fortsetzen und Ihnen weitere Analysen aus dem Bereich der Musik (mit dem Schwerpunkt Barock bis Symphonic Rock) präsentieren zu können. Die Ergebnisse sind zwar teilweise älter, aber keinesfalls veraltet und bis heute halt noch nicht veröffentlicht. Wie von senzatempo gewohnt, wird es von kleinsten Schnipseln und Detailhinweisen bis hin zu längeren Monographien für jeden Appetit etwas geben.

In Zukunft wollen wir natürlich die typischen erweiterten Möglichkeiten des Digitalen auch ausnutzen, also automatisch generierte Querverweise und Indizes aller besprochenen Komponisten, Werke, Tonarten (und Dreiklänge !-) Aber das braucht noch n bischen Entwicklungsarbeit, für diese wiederum braucht's Testmaterial, also dachten wir uns, -- fanget an !

Zunächst bringen wir eine lockere Folge von Stücken, die sich die letzten Jahre angesammelt haben. Diese werden zunächst einfach grob sortiert in vier Kategorien:

editorial Editorische Meta-Notizen (Keine Angst, das werden bestimmt nicht allzu viele !-)
phaenomen Über bestimmte Mechanismen der Wahrnehmung oder Techniken des Handwerks, an keinem oder mehreren Beispielen verdeutlicht.
monograph Über ein(1) einzelnes Werk oder eine bestimmte Stelle oder einen einzigen Akteur der Geschichte.
ereignis Über eine bestimmte Aufführung, Interpretation oder ähnlich Vergängliches.
weiteres Diese Kategorie kam erst einige Zeit später dazu und beinhaltet ästhetische Betrachtungen der Musik benachbarter Künste, oder der allgemeinen philosophischen Grundlagen.

"Ereignisse" sind grau, weil sie oft das am wenigsten Interessante sind. Dem Mimen flechte die Mitwelt besser keine Kränze, und außerem taugen die meisten Aufführungen eher als Gegenbeispiel.

Später soll dann schon eine gewisse "Verschlagwortung" dazukommen, so daß sich "Stränge" herausbilden, denen der Leser dann folgen kann, wenn sie oder er das will.

Der unten unterzeichnende Autor schätzte vor langer Zeit, bei Beginn dieser Arbeit, die Menge dessen, was er über Musik weiß, auf 1024 Seiten (damit sich das gut in 32 Print-Ausgaben zu je 32 Seiten teilen läßt!). Er hofft sehr, daß nun, bei etwas erleichteter Veröffentlichung, das nicht etwa mehrgeworden ist ...

Es darf auch nicht versäumt werden, darauf hinzuweisen, daß dies ein Archiv ist, nicht etwa ein Folge von Publikationen. Wir versuchen es zu vermeiden, aber es kann durchaus geschehen, dass ein Artikel im Laufe der Zeit korrigiert oder erweitert wird. Eher werden wir versuchen, wenn sich genügend Material angesammelt hat, einen deutlich als solchen gekennzeichneten Ergänzungs-Artikel anzuhängen, ggfls. mit rück-datierter Nummerierung.
(Mit dem TODE des Verfassers wird dann all das automatisch zu einer großen Publikation. So sich überhaupt wer dafür interessiert ;-)

Für Reaktionen (also Zuspruch, Kritik, Ergänzung, Widerlegung, Themenvorschläge, Nachfrage) ist der Verfasser allemal sehr dankbar. Diese erreichen uns unter
senzatempo (komischerKlammeraffe) markuslepper.eu

((((
FOR OUR NON-GERMAN SPEAKING GUESTS:
Sorry, but most of our music-theoretic results currently only exist in German language. So what you CAN do is (1) to donate to the costs of the translation process, or (2) learn to read/speak/understand German. In Feb. 2008 I met a bus driver from the public transport in Seattle who answered in German to my questions, and admitted that he had learned this language only for one single reason: To perceive the complete beauty from the operas of Richard Wagner. So at least for this, it seems worth the effort!

MEANWHILE there is one single article in English, namely senza tempo 20120701 00 -- Synopsis of Musical Notation Encyclopedias . It is English because the books bespoken there are mostly in English, and because the article had been written in a more international context of publication.
))))

^inh 2010082901 phaenomen
Cadenca construenda

Das Wort "Kadenz" beim Reden über Musik kann, nicht nur für den Laien durchaus verwirrend, für mehrere verschiedene, deutlich zu unterscheidende Begriffe stehen. Diese Homonymie ist aber nur ein Indikator für eine tieferliegende Unschärfe und Problemhaftigkeit der Begriffsbildung selbst.

Was kann man denn nun im herkömmlichen Sprachgebrauch mit dem Wort "Kadenz", also "Fallendes", meinen?

Erstens einen deutlichen formalen Einschnitt in einen musikalischen Ablauf, wenn alle Stimmen sich zusammenfinden und einen harmonischen Schritt in eine Grundfunktion der aktuellen Tonart machen (oder, noch häufiger, einer soeben über einen Modulationsweg erreichten neuen Tonart), also ein formales Ereignis der Satzstruktur.

Zweitens eine Folge von Akkorden, von funktionalen Klängen, die häufig einer "Kandenz-eins", wie gerade beschrieben, zu Grunde liegen.

Drittens ein großangelegtes Solo, welches den einfachen Vorgang einer "Kadenz-eins" anhält, unterbricht oder auf-faltet, und dem Solisten eines Konzertes an einer kadentiellen Stelle, meist kurz vor Ende des Satzes, Gelegenheit gibt, sein oder ihr virtuoses Können zu präsentieren.

Kadenz-drei ist im folgenden nicht mehr gemeint. Zu dieser sei nur gesagt, daß sie (1) in ihrem historischen Beginn improvisiert wurde, daß es (2) also erst später üblich wurde, sie überhaupt aufzuschreiben, daß (3) Kadenzen zu Konzerten improvisiert, aufgeschrieben und letztlich auch komponiert wurden häufig von anderen als den Komponisten des Konzertes selbst, daß aber (4) als diese dann dazu übergingen, die Kadenz mitzuliefern, so eine eigene Kunstform entstand, die, in den besten Fällen, wie in einem Brennglas die inhaltliche Substanz des ganzen Werkes zusammenfasst und somit (bei aller Reduktion des Instrumentalapparates) sogar den gehaltlichen Kern des Werkes bilden kann. So bei den Kadenzen Beethovens.

Zur Kadenz-eins sei gesagt, (1) daß diese in allen Musikepochen bis zur Spätromantik immer auftritt am Schluß von Werken oder deren Sätzen, und fast immer bei den Schlüssen von Themen und an den Schnittstellen ihrer internen Segmente.

Hingegen vermeidet z.B. Bach in seinen Fugenkompositionen bewußt jedwede Kadenz, bis auf wenige, auch immer architektonische herausgehobene Stellen, indem an allen Stellen, die normalerweise eine Kadenz bringen würden, eine Stimme nicht an diesem Kadenzierungsvorgang teilnimmt, sondern übergebunden wird, also "liegenbleibt", und meist als "Vorhalt und Auflösung" erst verspätet den Schritt der anderen Stimmen nachahmt. Nicht zuletzt durch diesen (prinzipiell sehr einfachen) Trick der Kadenz-Vermeidung entsteht das typische Gefühl vom Ständig-Im-Fluß-Sein beim Rezipieren einer Bachschen Fuge. Ähnliche Tricks findet man natürlich bei Wagner und seinem Ringen nach der "unendlichen Melodie".

Am Ende eines Werkes aber die Kadenz zu vermeiden, das ist erst in der Moderne möglich geworden, das früheste Beispiel ist vielleicht das "Lied von der Erde".

Häufig ist eine derartige Kadenz der Endpunkt einer logischen Entwicklung, z.B. eines rhthymischen Interferenzprozesses, einer harmonischen Komplexierung oder einer kontrapunktischen Permutationsfolge, so daß beim Hörer der Eindruck eines "Schluß-Ziehens" im Sinne der Logik entsteht, "das mußte ja so kommen" oder "jetzt geht's aber beim besten Willen nicht mehr weiter" oder "hier ist der Weisheit letzter Schluß."

Oder es ergibt sich das Bild des Schlüssels, der sich im Schloß dreht, und dadurch genau in diesem Moment einen neuen Zustand herbeiführt, --- halt etwas, das einrastet! Schrumm-Schrumm.

Dieser semantischen Wirkung wegen wird eine Kadenz-eins auch häufig nach einer modulierenden Harmoniefolge angewandt, um einen eben erreichten neuen tonalen Bereich als "neue Grundtonart" in das Gefühl des Hörers einzupflanzen. Man kann sogar soweit gehen, daß im Sinne der Formenlehre eine "Modulation", also ein Tonartwechsel, erst dann vorliegt, wenn sowohl eine durch Mehrdeutigkeit das Tonartgefühl verschiebende, "modulierende Harmoniefolge" auftritt, und zweitens eine darauf folgende Kadenz. Erstere alleine kann ja auch durch weitere Umdeutungen weiter fortgesetzt werden, weiter "modulieren" oder "schweifen". Erst eine Kadenz verhindert dies und bestätigt: dies ist eine neue Tonart.

Kadenz-zwei ist nun erstmal eine Abstraktion davon: Sie ist eine Folge von Akkorden, die man aus den tatsächlichen, komponierten und improvisierten Kadenzen der Musikgeschichte ab einer bestimmten Epoche (den Kadenz-eins-en) heraushören kann, wenn man will. Als Ergebnis erhält man verschieden Akkordfolgen, die, in den allen Tonarten spielen zu können, eine wichtige Übung des Musikunterrichtes ist. Diese lauten z.B. in Stufen-Notation und mit Funktionsbuchstaben:

  1)     I        IV  V  I 
         T        S   D  T
  2)     I        IV     I 
         T        S      T
  3)     I     II     V  I 
         T     Sp     D  T
  4)     I VI# II     V  I 
         T (D) Sp     D  T

Dabei heißt 1) oft "vollständige Kadenz", 2) "plagale Kadenz". 3) und 4) sind "erweiterte Kadenzen", da sie vom Grundmodell 1) abweichen: die zweite Stufe vertritt die vierte, und wird in 4) noch durch eine Zwischendominante vorbereitet.

Derartige Akkordfolgen (und es gibt davon unendlich viele Varianten!) von cis-moll bis Des-Dur im Schlaf und rückwärts auf dem Klavier darstellen zu können ist ein Hauptbestandteil der ersten Jahre Musikunterricht, --- halt Akkord-Arbeit.

Nennen wir diese Gebilde im folgenden "Lehrbuchkadenzen". Auf dem Klavier klingen sie dann so dumm und leer wie zB. 1):

Beethoven, op. 26, Nr. Takt 44

Volute

Hier nun aber beginnt bei den musikalisch mehr oder weniger Gebildeten, bis hin zu manchen Profis, ein grundlegendes Missverständnis.
Es ist nämlich nicht so, daß diese Lehrbuchkadenzen irgend eine Form von "Musik" darstellten.
Es ist noch nicht einmal so, daß, um eine konkrete Komposition zu erstellen, diese Akkordfolgen gleichsam als Fertiges oder als Vorgegebenes oder als Schablonen genommen werden und dann irgendwie in Stimmen aufgelöst, instrumentiert und in Musik verwandelt.
Nein, diese Lehrbuch-Kadenzen sind (a) Abstraktionen von Ergebnissen von Gestaltbildungsprozessen, die sich über Jahrhunderte hinzogen, und (b) theoretische Behauptungen die Wirkungsweise von bestimmten Strukturmerkmalen von Musik, die man "Harmonik" nennt.

Der Beweis, das Lehrbuchkadenzen eben als Musik nicht zu gebrauchen sind, ergibt sich ohrenscheinlich, sobald man es versucht: Der Karnevals-Tusch "Ta-Taaa Ta-Taaa Ta-Taaa" ist die reine Folge "V-I" (oder "D-T"), und wie die Uniform der Funkemarieche angeblich die der französichen Besatzer parodiert, so parodiert der "Tusch" jede Form von Musik: Er ist ein Schluß mit nix davor!

Daß die Lehrbuchkadenzen Abstraktionen sind, zeigt sich besonders deutlich an der Vernachlässigung der Oktavlage: In der Musik ist eine None in tiefer Lage etwas ganz anderes, als eine sehr hohe None, die ja in den oberen Bereichen des Partialtonspektrums dann auch irgendwann enthalten ist; wirkt ein Tritonus im selben Oktavregister ganz anders als einer, der um fünf oder sechs Oktaven gespreizt ist; wirken Sekundparallen ganz anders als Nonparallelen. Von all diesen Eigenschaften der konkreten "Lage" sieht die Lehrbuchkadenz aber völlig ab. Das unterstreicht ihre Theorem-Natur.

In der wirklichen Komposition ist es genau anders herum: Es waren z.B. historische Entwicklungsprozesse der Stimmführung, die den Durchgang "g-f-e" bei einer Kadenz nach C-Dur immer häufiger als Standardsignal für einen Ganzschluß etablierten. Durch das "Einfrieren" dieses Stimmführungs-Phänomens zum Akkord entstand der Dominantseptakkord "g-h-d-f" als Standard-Signal der Kadenz.

Beim Komponieren nun werden die derart eingefrorenen, historischen Entwicklungen tatsächlich wieder zu aktualen, werden die Entscheidungen, die im Rückblick auf vergangene Jahrhunderte im statistischen Durchschnitt schon längst entschieden sind, erneut getroffen. Sie müssen getroffen werden, denn das ist Teil der kompositorischen Arbeit, und sie können mit anderem Ergebnis als dem der historisch-statistichen Mehrheit fallen, da sie für jedes Werk auf die individuellen Regeln seiner Stimmführungsmethode, seines melodischen Materials, seiner harmonischen Palette eingehen müssen.

Somit ist eine Kadenz, und sei es die primitivste Schlußkadenz am Ende eines Werkes, niemals die Kopie einer Akkordfolge aus dem Lehrbuch, sonderen umgekehrt, diese ist deren Abstraktion, und jede Kadenz jeder Komposition ist allemal stets neu zu konstruierendes Stimmführungsereignis. --- "cadenca semper construenda est".

Volute

Dieses Prinzip trifft immer zu. Der betriebene kompositorische Aufwand ist allerdings durchaus unterschiedlich hoch. Zur Verdeutlichung eignet sich also am besten ein Vertreter der "Höchst-Kultur", z.B. die erste der "Bagatellen op. 126" von Beethoven.

Dieser kurze Satz endet mit einer Kadenz in seine Haupttonart, G-Dur, also der einfachen Akkordfolge "D7-G" im allerletzten Takt:

Beethoven, op. 26, Nr. Takt 44

Eine genaue und tiefere Analyse müßte selbstverständlich am Beginn des Werkes beginnen. Es seien deshalb nur einige Aspekte aufgewiesen, welche auf die enorme Komplexität der letzten neun Töne dieses Werkes hinweisen, und so unsere Forderung stützen:

[1] Der Baß der Takte 44 und 45 weist eine interne Zweistimmigkeit auf: der harmonische Schritt "fis-g" und der typische Baß-Schritt "d-g" sind beide in die Achtelfigur hineingefaltet. In der Vordergrundgestalt ergibt sich scheinbar ein "abspringender Leitton", in Wahrheit und Wahrnehmung aber ist das g halt Repräsentant zweier Stimmen des Mittelgrundes!
[2] Der allerletzte Takt (also die end-giltige Kadenz) bringt nun den Baß-Schritt in der Augmentation (Viertel statt Achtel) ...
[3] ...und im Gegenzug bringt die rechte Hand den Mittelstimmen-Schritt c-h in der Diminuition (Achtel statt Viertel).
[4] Von den vier Tönen des "konventionellen" Domintantseptakkordes dort ist einer zweimal repräsentiert: das groß-d geht zum g, im sowohl konventionell als auch materialstrukturell geforderten Baß-Schritt, und das klein-d bleibt liegen im Tenor.
[5] Als notwendiger Ausgleich, denn der Vordergrund-Satz ist ja nur vier-stimmig, teilen sich zwei andere Klangbestandteile eine Stimme (fis-c in Achteln). Der letzte Takt bringt somit vier Oktaven höher (!!) zunächst ein Echo des scheinbar abspringenden Leittons.
[6] Somit ist der Satz des letzten Taktes in Wahrheit fünfstimmig, weil das fis selbstverständlich zum g geht, und der allerletzte und allerhöchste Anschlag (g''' Achtel) repräsentiert zwei(2) Stimmen: den Endpunkt der Mittelstimmen-Schritte a-g und fis-g!
[7] Der letzte Takt rechte Hand ist somit mehrfach dual zu der Baßfigur: (1) dort waren zwei Mittelgrundstimmen in eine Vordergrundstimme gefaltet, hier ist eine Mittelgrundstimme (fis-g) auf zwei Vordergrundstimmen aufgeteilt. (2) Dort ging das fis tatsächlich seine vorgeschriebenen Gang, und das eingeschobene d ging auch zu dessen Zielton, hier geht der eingeschobenen Ton c ja gerade zu einem anderen Ton (auf der Spannung Sept-Terz, die in zwei verschiedene Töne sich entspannt, beruht ja die ganze tonale Dominant-Logik!), und das g muß von einer anderen Stimme gebracht werden.
[8] Zunächst kaum erklärlich ist die linke Hand auf der Drei in Takt 46:
Das a als Quintton der Dominante soll zum Grundton der Tonika gehen. Das tut es auch (siehe unterstes System des Notenbeispieles) in einer sowohl zeitlichen wie intervallischen Augmentation der bisherigen Baßfigur (fis-d-g wird a-d-g).
[9] Das klein-c hingegen bleibt als unaufgelöste Septime unverständlich. Hört man aber die Drei von Takt 46 als Sub-Dominante, dann wird alles klar: Das d''' in der rechten Hand ist dabei "akkordfremd": entweder Antezipation, oder, noch besser, rein motivisch begründet, und das fis ist sixte ajoutée zu einem a-moll, das als Subdominate wirkt, als Vertreter von C-Dur. Das es im "Alt" (der Unterstimme der rechten Hand) eigentlich e statt d heißt, ergibt sich auch aus dem deutlichen, kadenzierenden Stufengang "x1" (im Notenbeispiel eine Oktave tiefer herausgezogen!) Auch ist eine starke Präsenz der subdominanischen Region durch den Verlauf des gesamten Satzes schon nahegelegt.

Es wirken also die Prinzipien des Kontrapunktes sogar auf drei verschiedenen Ebenen: Mittel- und Vordergrund sind in sich schon kontrapunktisch. Der dritte Kontrapunkt besteht in deren Mit- und Gegeneinander-Wirken. Dies hat konkrete rezeptionstechnische Auswirkungen: Z.B. die deutliche Miss-Empfindung des abspringenden fis im Vordergrund wird geheilt durch die Stimmführung des Mittelgrundes.

Wichtig ist, daß all diese Beobachtungen dem Nicht-Klavierspieler vielleicht als "ein bißchen" (oder gar "sehr") "gesucht" und "konstruiert" erscheinen mögen, sich aber beim Üben des Werkes auf dem Pianoforte unmittelbar aufdrängen, --- wenn auch zunächst nicht verbalisiert und auseinandergenommen, so doch ganz zweifellos be-griffen. Die Klaviertastatur ist eben doch das "Rechenbrett", der "Abakus" des Musikers, das Feld seines Glasperlenspieles, und das Spiel der Finger ist eine Sprache des Geistes.

Wir erlauben uns, als zeitgenössisches Beispiel ein eigenes Werk anzuführen, den allerletzten Schluß des gerade erst fertiggestellten "Heftes zwei der Formen von Fuge" op. 31. Im vierten Satzes des Werkes kombinieren die vier Instrumente die vier Themen aller Sätze, und dies auch in der Schlußkadenz:

Lepper, op. 3, Nr. 4, Takt
^inh 2010082902 monograph
Überwältigung durch Uminterpretation
Eine einfache, grundlegende und sehr wirkungsvolle harmonische Maßnahme im Finale von Mahler II

Vielleicht haben Sie sich auch schonmal gefragt, wie die überwältigende Wirkung der Kadenz nach c-moll im Finale der Zweiten Sinfonie von Gustav Mahler bei Ziffer 12 zustande kommt.

Von der opulenten Orchestrierung kann man absehen! Zwar tragen die Posaunen und unisono schmetternden Hörner zum "Ewigkeits-Charakter", zur "Erhabenheit" deutlich bei, aber dies weniger durch ihr reines Blech-Sein, sondern vielmehr ebenfalls durch die harmonischen Faktur des Geblasenen: die vielen Quinten und Auschnitte aus dem Naturtonspektrum.

Die herzergreifende und seelenerschütternde Wirkung wird jedoch erzielt durch die harmonische Disposition im Bereich von wenigen Takten, aber in Bezug auf das Gesamtwerk, und ist in dieser Hinsicht höchst instruktiv, über den konkreten Anlass hinaus.

Zunächst einmal ist festzustellen, daß mit der Kadenz nach c-moll bei Ziffer 12 / Takt 173 die Grund- und Haupttonartder gesamten Sinfonie wieder erreicht wird. Zunächst scheint dies eine besondere Wirkung sogar unmöglich zu machen! Die Tonart c-moll ist maximal verbraucht: Der erste Satz begann und endete damit und hielt sich über lange Strecken darin auf. Der zweite Satz "steht" in As-Dur, was auch nicht gerade weit weg ist, und der dritte dann wieder satt in c-moll. -- Eine äußerst konservative, ja reaktionäre Disposition, geradezu ungeschickt zu nennen. (Wenn es nicht einen bestimmten Sinn hätte !-)

Die Rückkehr zur Grundtonart eines Werkes ist prinzipiell immer ein Moment von nahezu kosmischer Bedeutung. Diese aber kann verflachen und verwässert werden, wenn die Fremde, aus der man heimkehrt, gerademal um die Ecke ist.

Hier nun wird eine einfache und zugleich komplexe harmonische Maßnahme angewandt, um diese Heimkehr, die aus dem Gesamtkontext allein also keine Spannung beziehen kann, deutlich aufzuwerten: Einfach ist sie, weil ihr Vordergrundmaterial einfachste Dreiklänge und diatonische Skalen sind. Komplex ist sie, weil sie mit den Wahrnehmungsmechanismen von Harmonik bewußt spielt.

Wie läuft das ganze ab? Seit Ziffer 11 finden wir uns in einer breit angelegten C-Dur-Fläche: Strahlendes Blech, raumfüllende Streichertremoli und Harfenarpeggien, jubilierende Triller im Holz! Es treten nur die Grundfunktionen Tonika und Dominante auf, um eines der äußerst primitiven, choralähnlichen "Haupt-themen" dieses Satzes in klarstem C-Dur zu feiern.

Dialektischerweise gestärkt wird diese Brillanz noch doch eine Trübung: die Subdominante in moll ist eine konventionelle Bereicherung der Dur-Kadenz, um die Dur-Stufen noch strahlender und den Kadenzierungsvorgang noch bedeutungsvoller erscheinen zu lassen.

Die Wahrnehmung der ersten Takte nach Ziffer 11 ist also ...

                         | Zf 11                 | Zf 12
                   4-3   |                       |
        C-Dur:    D      | T    D    T    s   T  | ??

Mit Ziffer 12 aber fällt der Satz nach c-moll. Auf der direkten, "physikalischen" eins ist der Klang terzlos, könnte also noch Dur sein, dann wird aber schon zwei Viertel später die moll-Tonleiter nachgeliefert, zunächst gar in einer phrygischen Form, mit tiefalterierter zweiter Stufe.
Nichtsdestotrotz wird von unserem Erleben, da der harmonische Rhythmus zweifellos und überdeutlich auf Ganze und Halbe eingeschwungen ist, dieser ganze Takt a posteriori als c-moll-Tonika zusammengefasst werden.

Damit ergibt sich für die ganze Stelle ebenfalls eine Uminterpretation a-posteriori:

                         | Zf 11                    | Zf 12
                   4-3   |                          |
        C-Dur:    D      | T    D    T    s   T  s  | ??
                         |                          |
                         |                          |
                         |                          |
        c-moll:          | (D   DD   D    t   D):s  | t 

Das ganze schöne breite fette strahlende C-Dur war nämlich mitnichten eine gefeierte Tonika, sondern wir waren Opfer einer Ver-Blendung:
c-moll ist die wirkliche Tonika, sowohl dieser Stelle, als auch des Gesamtwerkes. C-Dur wird im Gesamtwerk nur als "Nebentonart" benutzt, und ist allemal vergänglich. (Die Apotheose des Schlusses wird in Es-Dur erfolgen!) Das feierliche C-Dur war nichts als die Dominantfunktion zum f-moll, eine eingeschobene "Zwischendominante zur Subdominante", die Kadenz ist folgerichtig, unausweichlich, tragisch.

Das, und dass die Haupttonart des allerersten Anfanges erreicht wird, trägt bei zur Erhabenheit dieser Stelle, --- die Falschheit des Interpretation des C-Dur als einer Tonika zu unserer Er-Schütterung.

Die Wucht dieser Kadenz, ihre Auszeichnung als etwas Exzeptionelles, auch in unserer Wahrnehmung, geschieht durch die gewaltige Masse der vielen Takte und Hörner, die wie ein überschweres Uhrengewicht a posteriori in ihr Gegenteil umgeworfen wird.

Die Betrachtung dieser Stelle lehrt auch Allgemeineres:
[1] --- Die harmonischen Funktions-Symbole stehen nicht für physikalische Klänge, sondern für deren psycho-internern Modellbildung, für deren Interpretation durch den Hörer.
[2] --- Wirkungen werden nicht nur durch solche "ein-stimmigen" Symbolfolgen beschrieben, sondern (allemal an den interessanteren Stellen) durch eine Parallelität solcher Folgen, entweder gleichberechtigt nebeneinander, unentschieden, schillernd, oder sich a posteriori umdeutend, als Metalepsis.
[3] --- Ein und dieselbe Tonart/Harmonik kann in kürzestem Zeitraum mit ganz unterschiedlichen Funktionen auftreten (z.b. "(D)s T") 1

Des weiteren zeigt diese Stelle das im Sinne des "Fernhörens nach Schenker" Wiederauftreten der Haupttonart. Diese kann auf die unterschiedlichste Weise realisiert werden, ist aber immer kritisch, in des Wortes eigentlicher Bedeutung.

So kann die Haupttonart (was dieses Beispiel hier nicht zeigt!) auch als Vordergrund-Phänomen erreicht werden, aber als Mittelgrund-Phänomen garnicht auftreten. Man stelle sich z.B. ein Werk in C-Dur vor, das bis nach E-Dur moduliert hat, dann nach H-Dur kadenziert, und dabei eine Neapolitonische Subdominate verwendet:

   C-Dur: T  ... D  ... DD .... DDD ..etc

                                              N
   E-Dur:                                (T  S   D) D

Das "SN" ist zweifellos ein C-Dur-Akkord (Sextakkord), aber von der Haupttonart als solcher vier Quintstufen entfernt, weil es e-moll stellvertritt!

Diese Arten des flüchtigen Berührens der Haupttonart sind die kunstvollsten!

^inh 2010082903 ereignis
Eine prominente Aufführung von Mahler II

Laut Angaben der ARD auf ihrer (ansonsten diesmal leider absolut greulichen!) website zum sogenannten "ARD-Radiofestival" gab es heuer zur Feier des 150ten Geburtstages Gustav Mahlers eine ganze Reihe von Festkonzerten, so z.B. am siebenten Juli im "Dvořák-Saal des Rudolfinums, Prag", was immer das sei, eine Aufführung der Zweiten Sinfonie.

Es wirkten mit die Sängerinnen Simona Houda Saturova und Yvonne Naef, der Tschechischer Philharmonischer Chor Brno, die Leitung hatte Christoph Eschenbach.
(Das Orchester war auf dieser homepage NICHT angegeben !-)

Die Sendung am 2. August dieses Jahres schaltete der Rezensent leider etwas zu spät ein und gelangte so mitten in die zweite Exposition des zweiten Themas, so zwischen Ziffer 8 und 9. Einerseits bedauerlich, andererseits ganz interessant, plötzlich reinzuspringen und angeschnitten wahrzunehmen.

(Irgendwie ist das die zeitliche Entsprechung zum räumlichen Effekt, der Wagner ja seiner eigenen Schilderung nach zur Erfindung des Deckels überm Orchestergrabens anregte, nämlich zuspätzukommen, nicht mehr eingelassen zu werden, und Beethovens Neunte dann durch die geschlossenen Saaltüren erleben zu dürfen, --- welch berückend indirekter Klang!! Wir alledings können uns Aufregenderes vorstellen!)

Jedenfalls meinten wir in diesen ersten Takten, uns auf eine sehr engagierte und neuartige Aufführung freuen zu dürfen: Das Tempo des Seitensatzes war sehr zurückgenommen, die Kontrapunkte überdeutlich, die Hörner, sonst oft nur Hintergrundsfüllsel, hier als Gegenstimme ernstgenommen. Sehr schön.

Ausgesprochen wohltuend war noch die große Schluß-Steigerung im dritten Satz, vor dem b-moll-Aufschrei: Die Hörn-Arpeggien nach Ziffer 50 hatten wir noch nie so deutlich gehört!

Leider aber bliebs nicht bei diesem positiven ersten Eindruck. Das Aller-Ärgerlichste ist, daß berühmte Dirigenten, und um einen solchen soll es sich bei diesem Herrn ja angeblich handeln (ich kenn mich da nicht so aus !-), sich überhoben fühlen, den Notentext mal zu lesen. Die wissen nicht, was sie da schlagen!

"Zum Licht, zu dem kein Aug gedrungen" vor Ziffer 46, da steht "Nicht schleppen" !! "Langsam" heißt es erst beim Anfang des Schlußfugatos nach dieser Phrase, --- der Dirigent tut das Gegenteil und zelebriert ein dickes ritenuto, das die Partitur ausdrücklich verbietet!

Oder die Sängerinnen, beide!! Es heißt "ge-lit-PAUSE-ten" und "ge-strit-PAUSE-ten". Das da mitten im Wort ne Pause notiert ist, halten die wohl für nen Druckfehler.

Und das Harfenglissando vor Ziffer 42! "Was ent-STAN-den ist"; "(Der 1. Ton des Gliss. stark zu betonen)". Das macht, das sei zur Entschuldigung auch angemerkt, keiner richtig. Einmal hatte Rezensent es so gehört, wie es wohl gemeint war: das tiefe f wirklich forte anschlagen und klingenlassen, und dann die folgende Skala ppp, wie ein Schatten dieses Anschlages, wie ein aufziehendes Filter über dem Obertonspektrum, wie eine reine Konsequenz dieses tiefsten Tones, wie das Entstandene schlechthin. Eine einzige Aufnahme hatte das mal so gemacht, die hab ich vor vierzig Jahren gehört, da laufen einem wirklich mystische Schauer über alle möglichen Körperteile, --- aber wer das war, das hab ich leider vergessen und bis jetzt auch noch nicht wieder rausgekriegt, wahrscheinlich Bruno Walter, jedenfalls ein wirklicher Könner, der den Gehalt, das Gemeinte versteht. Die anderen können ja noch nicht mal den Notentext lesen. Oder sind sich zu fein dafür.

Es war alles ganz hoch aufgehängt, ganz toll, ganz international, und der Staatspräsident war bestimmt auch da. Musikalisch war es geschludert.


1 NACHTRAG: Mathias Spahlinger ( „Antwort auf Peter Rummenhöllers Vorschlag zur Vereinheitlichung der »Bezeichnungsweise tonaler Harmonie«“, Zeitschrift für Musiktheorie, 8 (1977), S.40-42)) geht richtigerweise sogar noch weiter: "Gelegentlich wird sogar lokale und globale Funktion [desselben Klanges], bei gleichem Tonikabezug, verschieden benannt werden müssen." [Nachtrag 20201130]


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