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^inh 2018071302 monograph
Eine Empfehlung mit drei Einsprüchen
zu Tymoczkos "A Geometry of Music"

Ernstlich ans Herz legen möchte ich allen musikinteressierten Mathematikern und theorieinteressierten Musikern des Werk von Dimitri Timoczko A Geometry of Music. [timoczko].

Er konstruiert auf mathematisch saubere Weise, dabei behutsam schrittweise, allgemeinverständlich und gut erklärt, den Begriff des "grundlegenden musikalischen Objektes": Aus einer zunächst geordneten, konkreten Instrumenten zugewiesenen Ansammlung gleichzeitiger tonhöhenbehafteter Ereignisse werden durch verschiedene Abstraktionschritte, gesteuert durch fünf verschiedene Symmetrie-Eigenschaften, verschiedene Arten dieser Objekte konstruiert. Diese dienen dazu, verschiedene Eigenschaften musikalischer Artefakte genauer zu beschreiben und zu untersuchen.

Letztlich entstehen zwei- drei- und höherdimensionale Räume (resp. ihre leicht unterschiedlichen Varianten), in denen die Punkte zwei-, drei- oder mehrstimmige Akkorde repräsentieren, und in denen Akkordfortschreitungen und Stimmführungsbewegungen als Pfade/Wege/Strecken erscheinen.

Diese Darstellungsweise macht es durchaus leichter, bestimmte Akkordfolgen in ihrer inneren Logik zu durchschauen, als es im reinen Notentext oder auf dem Klavier möglich ist. Sie macht o.e. Symmetrieen und ihre Auswirkungen und Ausnutzungen unmittelbar anschaulich. Und dies (selbstverständlicherweise) unabhängig von Stil und Epoche, Satzweise und harmonischem Konzept, also prinzipiell von Renaissance bis Darmstädter Avantgarde, Popmusik und Free Jazz. 1

Im ersten Teil des Werkes wird die Theorie als solche dargestellt, in einem größeren zweiten dann angewandt auf konkrete Kompositionen.

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Erster, grundsätzlicher und vom Autor des Werkes wohl selbst auch geteilter Einspruch ist, dass, jedenfalls angewandt auf traditionell-tonale Musik, also auf die der Funktionsanalyse zugängliche, eine derartig "gleichberechtige" Behandlung aller Tonklassen (in der amerikanischen "set class theory" das Grundprinzip) nur eine von mehreren Wirkungsschichten darstellt. Wenn auch zweifellos eine wichtige.
Er gesteht das auch zu, wenn auch nur als Fußnote auf S.51: "Voice leading provides just one of many possible notions of musical distance. We might sometimes want to conceive of musical distance harmonically [...], or in a way which privileges membership in the same diatonic scale."

Der Unterschied zwischen den Zugängen wird an folgenden Beispielen evident: Auf S.49 fragt er ob die Stimmführung (C,E,G)->(Des,F,As) "größer oder kleiner" sei als (C,E,G)->(C,E,A).
Er betrachtet zunächst nur die Anzahl der überschrittenen Halbtöne, -- aber in einem Kontext, wo ich ein "C-Dur-Zentrum" empfinde, ist halt ein a-moll-Dreiklang etwas fundamental Anderes als ein Des-Dur-Dreiklang; den einen empfinde ich als trivial, ja, notwendig, der andere reißt neue Welten auf: T->Tp vs. T->sG.

Ähnlich auch S.51, wo die Akkorde C+E+G+B und C+Es+G+B als ähnlich bezeichnet werden. In der Funktionstheorie sind sie hingegen fast so verschieden wie nur möglich: Der eine enthält eine verminderte Quinte, der andere nicht!

Überhaupt ist das Problem der "minimalen Stimmführung" zwischen zwei synchron wechselnden Akkorden in den Ableitungsschichten des Mittelgrundes eines jeden Werkes zwar durchaus immer relevant. Es deckt aber auch nur einen Teil ab der Mittelgrundstruktur, und einen noch geringeren der Vordergrund-Phänomene: Dreiklangsbrechungen und große Sprünge werden gar nicht erfasst; das Hauptthema der Kunst der Fuge und alle seine kontrapunktischen Kontexte sind damit schlicht nicht darstellbar; die ersten zwei Noten des Finales von Bruckners Neunter sind ein aufschreiender Protest gegen solche Verkürzung.

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Schwerer wiegt mein zweiter Einwand, nämlich gegen die Behauptung, dass manche Maßnahmen der Komponisten, besonders der Avantgarde des Zwanzigsten Jahrhunderts, aber auch schon viel früher in klassischer bis romantischer Musik, vom Hörer garnicht wahrgenommen würden und folglich mit gleichem Effekt durch vollständig zufällig Generiertes ersetzbar sind. So zitiert er in Fig. 1.2.2 die Reihe aus Schönberg op.25. "Suite für Klavier", dem wahrscheinlich ersten wirklich "zwölftönigen" Werk des Komponisten. In Teil (a) der Abbildung werden drei Erscheinungsformen der Reihe (O auf fis, R auf f und IR auf d) zusammengerückt in je vier dreistimmige Akkorde; in Teil (b) erklingen als Kontrapunkt in Vierteln in verschiedenen Oktavlagen von oben nach unten die zwölf Anschläge von O auf ais-eins, I auf klein-h und IR auf klein-c.

"On the first (or even tenth) listening I do not find the sequences in Figure 1.2.2 to be dramatically different from randomly generared sequences such as Figure 1,2,1b," Da fehlt es allerdings an besserer Gehörbildung! Denn in der ersteren liegen, folgend dem dodekaphonen Konstruktionsprinzip, keinerlei Wiederholungen von Tonklassen vor, in der zweiten aber sogar von derselben Tonhöhe, gar unmittelbar hinter einander, was von jedem halbwegs ausgebildeten Mittelschüler keinesfalls überhörbar ist. Im Teil (b) klingen in den Oberstimmen das Original und die Umkehrung "punctum contra punctum" gegeneinander, -- auffälliger lässt sich eine Spiegelung garnicht präsentieren, die Entropie kollabiert, die dritte Stimme (=Bass-Stimme) kann das kaum verunklaren!
Also beides durchaus weit entfernt von "zufällig generierten" Strukturen, ja sogar ziemlich deren Gegenteil.
Allerdings ist beizupflichten, dass "IR", die "Krebsumkehrung", als solche wohl nicht zu erkennen ist, wenn auch der Rücklauf der ersten vier charakteristischen Anfangsnoten am End im Bass vielleicht eine "Ahnung" von den Tatsachen aufkommen läßt. 2

Keinesfalls aber läßt sich aus dem nicht-stattfindenden bewußten Erkennen der Verhältnisse ihr Nicht-Wirken ableiten! Selbstverständlich brauche ich als Hörer weder den bewußten Begriff einer "Umkehrung" / "Inversion" noch deren bewußtes Erkennen, damit diese in meiner Empfindung (von Ruhe und Unruhe, Ordnung und Unordnung, Spannung und Entspannung etc.) wirksam werden kann.

Wenn auch das bewußte Hören allemal das Ideal des aufgeklärten Geistes bleibt, so ist dessen Vorstufe und unverzichtbare Grundlage doch das Wirksam-Werden der Komposition. Und dies findet statt (oder auch nicht) abhängig von der Qualität des Werkes und der Affinität zwischen Hörerin und Werk, aber unabhängig von der technischen Benennbarkeit der erlebten Effekte durch den Hörer.

Das gilt auch für die ältere Epoche: Ob ein Werk in seiner Anfangs-Tonika schließe, können die meisten Hörer angeblich nicht beurteilen, behauptet der Autor auf S.22.

Selbst wenn das nachweislich so wäre (wir haben die zitierten Studien bisher nicht lesen können), so sagt das wiederum nichts über die Wirksamkeit.
Leider verlassen wir hier den Bereich, welcher der Wissenschaftlichkeit im strengen Sinne zugänglich ist. Um dies empirisch zu überprüfen müsste eine Gruppe von Test-Hörern einer Aufführung des gesamten Ringes ausgesetzt werden, deren Partitur so manipuliert ist, dass die zweite Szene Rheingold weiter in Des-Dur beginnt, die Götterdämmerung aber in D-Dur oder C-Dur endet.
Der originalen und der manipulierten Fassung müsste man sie mehrfach aussetzen und jedesmal ihre Gefühlsreaktionen messen, abfragen, testen, etc.
Das ist (leider?-) nicht durchführbar.
Dennoch aber sind wir überzeugt (indem wir von kürzer dauernden Fällen extrapolieren und so das Prinzip der "identischen Tonika" als Forderung aufstellen), dass sowohl rein gefühlsmäßig als auch für den intellektuell transportierten "gemeinten Inhalt" die Identität der beteiligten Tonarten fundamental wichtig und wirksam ist: Midi-Keyboard Klänge von manipulierten Händel-Sonaten (wie in der einen zitiertierten Studie Marvin und Brinkmann 1999) sind das eine, -- Wagnertuben aber, gestimmt in Es und B, resonieren in Des-Dur selbsverständlich deutlich anders als in C oder D, ganz zu schweigen vom Harfenklang. Und auch das in den Neuronen gespeicherte Klang-Gedächtnis wird auch nach Tagen das Des-Dur noch wiedererkennen 3 -- nicht zuletzt deshalb die ergreifende Wirkung von "O Ihr der Eide ewige Hüter", wo zum ersten mal seit Rheingold wieder "des-moll" erklingt!

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Wir haben einen letzten, aber noch schwerer wiegenden Einwand:
Seite 8 sagt "This book is primarily concerned with what composers do."
Dem aber müssen wir deutlich widersprechen! Immer wieder erscheinen (allerdings nur in seinem kurzen einleitenden diesbezüglichen Kapitel 1.4) Formulierungen wie: Das Buch versuche eine Antwort für heutige Komponisten auf die Frage "what concepts would be helpful if I wanted to compose music like this?" (S.22)
Der Autor sieht seine Aufgabe als Komponist (zumindest in bestimmten Situationen) "as to produce the best musical effect." (S.24)
Weiter heißt es "Many composers also built into their music layers of additional, more complicated structure" (S.25) oder "The composer's well-being depends on your willingness to listen, not on whether you interpret music in the same way that he or she does." (S.24)

All das ist gefährlicher Unsinn. Der wirkliche Komponist stellt sich nicht die Frage, wie er "Musik wie diese" schreiben kann. Er oder sie produziert auch keine "musikalischen Effekte". Er oder sie hat auch nicht die Freiheit, "kompliziertere Strukturen" willentlich einzubauen oder wegzulassen.

Das alles kann der Kunst-Handwerker, aber nicht der Künstler.

Wahre Kunst, egal in welchem Stil, Genre oder Gattung, ist nämlich Forschung: Ich setze so wenig (persönliche) Impulse wie möglich, nur so viele Axiome wie nötig, und überlasse dann der Kunst selbst die vollständige Kontrolle. Ich kann nicht "einbauen" oder "Effekte produzieren" oder mich fragen, was das Publikum wohl will. "Hier fragt's sich nach der Kunst allein."
Wo will die Musik selber hin? -- das ist der einzige legitime Maßstab allen künstlerischen Handelns.

"Was kümmert mich seine elende Geige, wenn der Geist zu mir spricht und ich schreib es auf." soll Beethoven in einer der Varianten dieses (leider nur folkloristisch überlieferten) Spruches gesagt haben.
"Der Geist" ist der Welt-Geist Hegels, sind die Mechanismen von musikalischer Produktion und Rezeption selber, als solche, wie sie in unserem durch langjährige Übung trainierten Unterbewußten und in dem uns umgebenden kulturellen Kontext als vielfältiges Beziehungsgeflecht, ungreifbar, da immateriell und jede Darstellbarkeit schon rein quantitativ übersteigend, aber dennoch immer konkret und überprüfbar, realisiert sind.
(Dieses Geistes bewußte Modellierung, gleichsam sein Selbst-Bewußtsein, ist ein wichtiger, auch regulierender, Teil davon, aber nur ein kleiner.)

"Es ist, als komponierte geheimnisvoll hinter ihrem Bewußtsein und in ihrem Namen die weit höhere Macht einer Wahrheit, einer Natur, der es gar nichts verschlägt, ob der glückliche Komponist selbst das Richtige wollte oder auch nicht" [Schenker, Harmonielehre, S.77]
"[Es] genügt keine der Legenden und keine hermeneutische Deutung, um die Tonwelt zu erklären, wenn man nicht eben mit den Tönen so denkt und fühlt, wie sie gleichsam selbst denken." [Schenker, Tonwille I, S.31]
Diesen Geist mit jedem Werk aufs Neue zu erforschen und Gestalt zu verleihen ist Aufgabe der Komponistin. "The composers' well-being" hängt nicht vom Geschmack der Massen ab, sondern ausschließlich davon, wie nahe sie diesem Ideal kommen. "The point is to write music that other people want to listen to" ist vor diesem Hintergrund durchaus fragwürdig.

Weiterhin: Da auch der Komponist nur Forscher ist, nur demütiger Diener, nur auf der Spur der Wahrheit, ihrer auch immer nur teilweise bewußt, ist es selbstverständlicherweise (da geben wir dem Autor recht, aber aus anderen Gründen) nicht legitime Absicht, dass die Hörerin genau so das Werk rezipieren solle wie der Komponist es vorschreiben will. Aber dass die Rezeption geschehe im Sinne des gemeinsamen Forschungsprozesses, in der richtigen Richtung -- das machen wir dann doch zur Bedingung:
Wahre Kunst ist immer aufklärerisch, ist immer emanzipatorisch. Das ist das große Vermächtnis Beethovens, dessen Geburtstag im letzten Jahr wir dadurch ehren sollten, diese seine Forderung hoch zu halten. Er ist ein Meister der Überraschung, Irreführung, Täuschung und Manipulation, und immer sagt er uns a posteriori: Seht hin, so ist das gemacht worden, auf diese Weise habt Ihr Euch irreführen lassen, das ist es, wo Ihr kritisch, wo Ihr vorsichtig sein müsst!
Das ist die einzig mögliche würdevolle Haltung des Künstlers, ganz entgegen der des Illusionisten.

Es bedarf mühsamster Arbeit der Gehörserziehung, in der Horizontalen wie der Vertikalen, bis ein Mensch fähig ist, weit-gespannte formale Konstruktionen und vierstimmige Sätze überhaupt zur Kenntnis nehmen, die letzten Beethoven-Quartette oder die Kunst der Fuge überhaupt hören zu können. Die Vorbereitung dazu dauert Jahre, ist mühsam und anstrengend. Die Masche des Kunsthandwerkes, dem Publikum hinterherzurennen und ihm möglichst schnell Befriedigung zu verschaffen, ist verbrecherisch. Sie betrügt große Teile der Menschheit um existentielle Erfahrungen, die das Mensch-Sein in seiner Gänze erst ausfüllen. Z.B. das Erleben genannter Werke und der daraus entspringende mit nichts anderem im Leben vergleichbare Genuss, der entsteht durch ein umittelbares Zusammenschalten tiefster, rein intuitiver Strukturerkenntnis mit prae-natalem, post-mortalem Gefühlsinhalt, durch unmittelbares Zusammenschalten von Stammhirn und Großhirnrinde, durch unmittelbare zusammenfallende Selbst- und Welterkenntnis, durch konkretes Erleben der Ewigkeit.
"Musik ist höhere Offenbarung als alle Philosphie," -- genau das ist damit gemeint, das ist das Ziel, und das darf beim Komponieren von Musik niemals vergessen werden.

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Man verstehe uns bitte nicht falsch: Bei Dimitri Timoczko A Geometry of Music handelt sich (bei aller obenstehender Kritik an den Grundsatzpositionen, die aber im Buch selber keinen großen Raum einnehmen) um ein wichtiges, spannendes, gut zu lesendes und verständliches Werk, allen ans Herz gelegt, die aus möglichst vielen verschiedenen Perspektiven auf dieses rätselhafte Ding namens "Musik" ihre Blicke werfen wollen.
Allerdings werden die rein geometrie-basierten Darstellungen ab einem bestimmen Grad von Komplexität doch eher verwirrend statt erhellend. Wie der Autor zutreffend schreibt:
"By learning multiple ways to represent the same music, we can develop flexibility of mind and deepen our grasp of the underlying structures." (S.114, unsere Hervorhebung)
Es ist eben einer von vielen Blickwinkeln, der mit den anderen (der praktischen Erfahrung beim Greifen auf dem Klavier, beim Lesen und Schreiben von Noten, etc.) kombiniert werden muss.
Was aber diesen einen Aspekt der technischen Symmetrieen und ihren Auswirkungen auf musikalische Strukturen und ihre Fortschreitungsmöglichkeiten angeht, ist dieses Werk wohl das zur Zeit empfehlenswerteste.

1 Bibliographie

[timoczko]
Dimitri Timoczko
A Geometry of Music --- Harmony and Counterpoint in the Extended Common Practice
University Press, Oxford, 2011 (20210408)


1 Es ergänzt sich auch sehr nett mit dem Ansatz vertreten in unserer eigenen Harmonielehre: Er geht von den enharmonisch identischen "zwölf Tönen" aus, wir hingegen von enharmonisch verschiedenen und der Funktionstheorie; er vom Zirkel der pitch classes und wir vom Euler-Netz; er wendet sich vornehmhlich an mathematisch interessierte Musiker, wir an an Musik interessierte Mathematiker, etc.

2 Man vergleiche mit dem Effekt der "geheimnisvollen Anmutung" des Rücklaufes in der Fuge der C-Dur-Violinsonate BWV 1005!

3 Man vergleiche die ungemein erleichternde Wirkung des Eintretens der echten Reprise nach der tonal falschen Schein-Reprise in Mozart Jupiter-Sinfonie erster Satz oder Beethoven B-Dur-Quartett, ebd.


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