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Kleines Archiv für Musikphilosophie


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^inh 2012110200 ereignis
Buchvorstellung "Die digitale Revolution der Musik"

Durfte der Rezensent doch letztens eine öffentlichen Veranstaltung besuchen, auf der der Autor Harry Lehmann sein neuestes Buch "Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie" vorstellte.[leh]

Zum Eingang des Abends erklang eine beeindruckend-virtuose Komposition für Schlagzeug-Solo. 1

Dann referierte der Autor ca. eine halbe Stunde Grundthesen aus seinem Werk.

Das Buch kennt der Rezensent nicht, aber den Vortrag nimmt er dankbar zum Anlaß, dem Autor in fast jedem Punkte, ausser den trivialen, zu widersprechen.

Zuspruch ...

allerdings gebührt ihm bei der gut gegliederten Darlegung der Fakten der Entwicklung der Digitaltechnik und ihrer Konsequenzen auf Musikdenken und Musikproduktion:

  1. Die steigende Leistungsfähigkeit und sinkenden Kosten digitaler Produktionsmittel vermindern (teils dramatisch) den Einfluss der herkömmlichen Institutionen, wie Hochschulen, Verlage, Festivals, etc.
  2. Die digitalen Netze schaffen neue Verteilungsmöglichkeiten, Märkte, soziale Szenen.
  3. Auch auf der Meta-Ebene: Wissen über Musik und deren Herstellung wird einfacher kommunikabel.

Der Autor unterscheidet Veränderungen der Institutionen von denen des Diskurses, was wohl zweckmäßig ist. Die These, allerdings, dass allemal jene diesen vorangehen und sie verursachen, scheint hingegen fraglich.

Der Anspruch

Schade auch, dass der Autor zur Einleitung, bezugnehmend auf das Musikstück des Anfanges und die Tatsache, dass darin so gar keine Digitaltechnik auftrat, zunächst anmerkte, dass eben "die digitale Revolution nicht unbedingt mit Avantgarde zu tun hat", im folgenden sich aber durchweg beschränkte auf die "Neue Musik mit groszem Enn", wie immer man diese auch fasse.

Wir wissen, wie gesagt, nicht, was im Buche abgehandelt wird. Wenn aber die "Revolution DER MUSIK" in dieser Komplettheit den Titel des Werkes ausmacht, dann muss man wohl auch reden von klassischer Orchestermusik, von Schlager, von Jazz, von Folk und Pseudo-Folk, von Musikunterricht und mathematischer Musiktheorie, und nicht zuletzt, vielleicht sogar zuförderst, von Hip-hop, elektronischer Tanzmusik, Punk und Meditations-Trance-Selbsterfahrungs- Entspannungs-Weleda-Kuschelgeklingel (oder wie man diese Gattung nennt !?!?, häßlich, aber real!)
Ein riesiges, kaum überschaubares Gebiet.

Von all dieser Vielfalt war aber mit keinem einzigen (sic!) Worte die Rede, es ging ausschließlich um den winzigen Splitter "klassische Avantgarde", also "Darmstädter Schule" im weitesten Sinne.

Interessant war dass der Übergang des Wortgebrauches von "Musik" zu "Neuer Musik" in der Rede des Vortragenden unmerklich-gleitend erfolgte, und dass der Begriff selber niemals expliziert wurde, sondern fraglos vorausgesetzt. Vielleicht erfolgte diese an sich unstatthafte Verkürzung jedoch nur in Hinblick auf das Publikum, und nicht im Buch selber, sondern nur in diesem Vortrag!

Nun aber zu einzelnen Behauptungen:

Musikphilosophie trete auf in Zeiten der Neu-Definition von Musik.
Musikphilosophie sei keine akademische Disziplin, sondern bestehe aus "bedarfsgetrieben" aufkommenden Diskursen, wann immer die Grundlagen der Musik sich änderten und eine kritischen Reflexion anregten. So z.B. als vor zweihundert Jahren die Sinfonie zur zentralen Gattung wurde, oder als vor einhundert Jahren die Grenzen der Tonalität überschritten wurden.

Nunja, da protestieren wir allein schon um den Titel unserer kleinen Zeitschrift zu rechtfertigen:
I.m.h.o. ist Musikphilosophie das ständige, tägliche Ringen um das Bewußtsein von der Funktionsweise meiner Seele, von der Funktionsweise der zeitgebundenen Wahrnehmung, soweit all dies sinnvoll ist, ins Bewußtsein gehoben zu werden, -- ist die Harmonik des heutige Tages und die Kontrapunktik der heutigen Bedürfnisse, ist Realität des Denkens und Denken der Realität.
(Siehe die Beiträge in dieser kleinen Zeitschrift.)

Orchesterwerke seien mittels Digitaltechnik einfach klanglich realisierbar.
Traditionell gesetzte Orchsterwerke seien, so meinte der Vortragende, inzwischen mit Digitaltechnik (e.g. den Sample-Libraries der Wiener Sinfoniker) sehr gut realisierbar, fast ununterscheidbar zu einer Aufführung durch Musiker.

Da sagt unsere Erfahrung etwas anderes. Für bestimmte Satzformen trifft diese Behauptung durchaus zu. Die meisten Sätze aber klingen zum Weglaufen! Das "Fein-Tuning" der Aufführungsparameter ist dermaßen aufwendig, dass eine Aufführung durch Musiker fast immer die günstigere, wenn nicht einzig praktikable Alternative ist. Nicht umsonst gibt es das großangelegte "rubato"-Projekt, welches versucht, aus Ergebnissen algorithmisierter musiktheoretischer Analyse Steuerkurven für Aufführungsparameter abzuleiten, die eine vollkommen automatische Realisierung durch den Rechner halbwegs erträglich machen.
Dies wird in vielleicht zehn Jahren zu generell anwendbaren Lösungen führen.

Die "Neue Musik" sei ein autonomes Kunstsystem.
Dies tauchte auf als Implikation in der Frage, wie denn "die außer-musikalischen Änderungen den Diskurs überhaupt beeinflussen können, da doch die Neue Musik ein autonomes Kunstsystem ist?".
(Als Antwort darauf hat der Autor einen sehr interessanten Vorschlag, auf den wir ganz zuletzt eingehen werden.)

Ist die "Neue Musik" wirklich eine "autonomes Kunstsystem"? Was ist das überhaupt? Und wenn wir nicht wissen, was ein "autonomes Kunstsystem" ist, wissen wir denn nicht, was immer es auch sei, dass die "Neue Musik" es jedenfalls nicht ist?

Ist nicht die "Neue Musik" ein Geflecht von Cliquen, Intrigen, Interessen, Feind- und Seilschaften, Vorurteilen, Revierkämpfen und Pfründen? Wurden nicht grottenschlechte Improvisationen von Gasthörern deshalb in Konzertprogramme von Hochschulen aufgenommen, weil der Urheber gerüchteweise im Programmkommittee der nächsten "Computer Music Conference" sitzt? Ist das Filter, welches über Aufführung, Verlag und Verbreitung, Besprechung oder Totschweigen entscheidet, nicht ein solches, wo gemeinsame oder ähnliche wirtschaftliche oder sexuelle Interessen wichtiger sind als ästhetische Kriterien, die es als "objektive" ja eh nie geben kann?
Nennt man sowas "autonomes Kunstsystem", besonders wenn man vorher ja darauf hinwies, dass die (Veränderungen der) Institutionen den Diskurs deutlich beeinflussen?

(Nun wird der Text etwas weniger linear, weil die folgenden Thesen nicht mehr einzeln sondern in gegenseitiger Abhängigkeit stehen, und darüber hinaus von uns auch unterschiedlich bewertet werden:)

Die "Neue Musik" habe zur Zeit ein Legitimation-/Ausrichtungs-Problem.

Eine ähnliche These haben wir vor einigen Monaten in einer Gesprächssendung im Radio gehört, dort allerdings bezogen auf "elektronische Musik" und "Computermusik", -- dass nämlich dort seit ungefähr einem Jahrzehnt so recht kein Fortschritt aufgekommen sei, und keiner mehr wisse, worin Fortschritt überhaupt bestehen könnte.
Die Teilnehmer des Gespräches machten einen sehr kompetenten und vernünftigen Eindruck, sodaß wir ihnen, ohne Experte in diesen Genres zu sein, durchaus zu glauben geneigt waren. Wir wissen leider nicht mehr, wer diese waren, noch überhaupt, ob es um "E-" oder "U-Musik" ging.
Die Krise scheint aber ubiquitär zu sein.

Die "Neue Musik" sei bisher durch einen "Fortschritt im Material" getrieben worden, der nun an ein Ende gekommen sei. Dies bewirke o.e. Legitimation-/Ausrichtungs-Problem.

Der Anspruch, absolute Musik zu sein, habe den Diskurs über das Legitimation-/Ausrichtungs-Problem blockiert.

Die Digitaltechnik könne bewirken, dass "Neue Musik" sich umorientiert zu "relationaler" Kunst. Damit könne o.e. Problem überwunden werden.

Als "relationale" Kunst bezeichnet der Autor recht plastisch "welthaltige" Kunst, die sich also mit Gegebenheiten ausser-musikalischer Realität in Beziehung setzt, sei es als Anlass, als Material, oder gar als Formgenerator. Dies ist das Gegenteil zur "tönend bewegten Form" der "Absoluten Musik".
Die Hinwendung zur relationalen Musik könne das Legitimations- und Ausrichtungs-Problem der Neuen Musik lösen.
Dieser Kurswechsel werde durch die Digitaltechnik ermöglicht.

Wie finden sich doch Wahres und Irrtum hier inniglich vermengt:

Rezensent hat in den Siebziger-/Achtzigerjahren Komposition studiert, also "Neue Musik". Da ging es um Anti-A-Ka-We, Anti-Strauß, Anti-Pershing-Zwo, in fast jedem an der Hochschule aufgeführten Werk! Da waren philosophische Texte, politische Slogans, Zeitungsausschnitte, ja Armutsstatistiken grundlegendes und teilweise gar unmittelbares Material zu jeder Komposition. Da wurden Stücke unter Mitwirkung von Schalmeien-Kapellen und Laien-Chören geschrieben, da wurde szenisch agiert und es wurden Skulpturen auf offener Bühne angeschmiert und demontiert.

Dabei war fast nie ein (wie immer zu fassender) "Materialfortschritt" der Maßstab für ästhetische Relevanz. Material war immer nur -- Material! Gegenstand der Gestaltung, Diener der Form. Seine Weiterentwicklung war Resultierendes, nicht krampfhaft Bemühtes.

Maßstäbe waren politische Inhalte, mehr aber noch ästhetische Stringenz, Spannung und Spaß.

Das alles aber war dennoch in jeder kleinsten Note "Neue Musik" nach den allerstrengsten post-seriellen Regeln der Materialanalyse und -disposition.
Dennoch konnte in keinem einzigen Parameter von "absoluter Musik" die Rede sein!

Und das alles ohne Digitaltechnik.
Ganz im Gegenteil, deren Vorgänger, die "Elektronischen Komponisten", waren die, die am ehesten in Richtung Absolutheitsanspruch gingen, cf. G.M.König, Funktion Indigo, etc.

Wann in den letzten Jahrzehnten die "Neue Musik" als Ganze denn diesen Anspruch oder die Ausrichtung auf "Absolutheit" entwickelt haben soll, ist Rezensenten unbekannt, da er ihren weiteren Gang dann nicht mehr verfolgte. Es wurde auch vom Referenten nicht weiter erläutert.
All diese Fragen aber verlieren schlagartig viel von ihrer Relevanz, sobald man eine Pluralität von Stilen, Konzepte, Szenen und Schulen bereit ist anzuerkennen.
Dann mögen einige gerne absolut gesinnt sein, sie müssen dann halt ihr Päckchen tragen!

Wodurch konkret und in wie weit der Einsatz von digitaler Technik die Welthaltigkeit, den relationalen Charakter von Musik erhöhen kann, wurde leider nicht weiter ausgeführt. Uns fällt dabei spontan nur ein, dass die Techniken der musique concrète bedeutend einfacher anzuwenden geworden sind, ja, in der industriellen und privaten Pop-Musik mittlerweile (teilweise) zum Grundrepertoire der Produktionstechniken gehören.

Dass aber ein entsprechend avanciertes und problembewußtes kompositorisches Denken dem einhergeht, ist u.E. durchaus zweifelhaft.

Auch absolute Musik sei welthaltig, indem sie die Struktur der Welt widerspiegele.

Zum guten Ende ein zutiefst wahrer Satz, ein Satz, der die letzte Grundlage ist auch für all unsere eigenen analytischen Bemühungen.

Wir würden ihn nur leicht modifizieren, indem wir die Kantianische Wende berücksichtigen, die Verbindung von "transzendentalem Idealismus und empirischem Realismus".
Danach ist "Welt" Wirk-lichkeit, nicht Ding-lichkeit. "Welt" ist immer nur Welt, wie sie uns erscheint, wie wir sie erfahren.

Damit ist absolute Musik nicht nur "nebenbei" welthaltig, sondern zutiefst und in ihrem innersten Wesen zwangsläufig welthaltig, indem sie die Funktionsweise unseres Denkens nicht nur widerspiegelt, sondern sogar systematisch erforscht.

Man kann es nicht oft genug sagen: Die Repriseneinsätze im ersten Satz des B-Dur Quartettes op. 130 und in vierten Satz des a-moll Quartettes op. 132, zum Beispiel, sind systematische Studien über die Manipulierbarkeit unseres Erlebens, und deren überzeugende Demonstration.

Musik ist welt-haltig, als ihre Form zur Gänze die Welt umschließt, die wir erst erschaffen.

Darum, nicht etwa versponnen-verschwommen, sondern ganz konkret und nachweisbar, ist "Musik [...] höhere Wahrheit als alle Vernunft".

1 Bibliographie

[leh]
Harry Lehmann
Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie
Schott, Mainz, 2012


1 Es handelte sich um das Werk In the reflecting pool, Washington D.C. 1963 -- for percussion solo and ipad von Leah Muir. Solist war Adam Weisman, Schlagzeug.


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